Der Rothirsch

Der Rothirsch ist sagenumwoben und majestätisch. Gleich welches Attribut wir ihm zuschreiben, eines steht fest: Dem imposanten Tier zu begegnen, ist beeindruckend. Kaum jemand wird das erste Zusammentreffen mit ihm vergessen.

Seinen Lebensraum hat der „König der Wälder“ nicht ganz freiwillig gewählt. Wo der Rothirsch nicht vom Menschen verfolgt und gestört wird, kann mam ihn auch am Tag im Offenland beobachten. Wo das nicht gewährleistet ist, hält sich der Rothirsch tagsüber im sicheren Wald auf und verlässt die schützende Deckung erst bei Dämmerung. Gute Aussichten auf eine Beobachtung im Hellen hat man zum Beispiel in Schottland. Aufgrund der vielerorts fehlenden Waldstrukturen treffen wir den Rothirsch dort regelmäßiger tagsüber an, als in Deutschland. Allerdings gibt es auch bei uns Ausnahmen. So hat man beispielsweise in jagdfreien Bereichen von Nationalparks gute Chancen auf eine Begegnung am Tag. Auch in den Alpen, auf ruhig gelegenen Alpweiden in einer Höhe von 2.000 bis 2.700 Metern, kann man das imposante Tier recht häufig auch am Tage beobachten.

Am einfachsten ist eine solche Beobachtung während der Brunftzeit. Dann kommt der Rothirsch auch an Orten tagsüber ins Offenland, wo wir ihn ansonsten eher nicht antreffen würden. Ein wenig Glück braucht man dafür allerdings. Vielerorts wird die Suche nach Rothirschen durch Beobachtungstürme und -plattformen erleichtert. Gleichzeitig können sie den Stress für die Tiere verringern, denn sie kennen die Stellen und wissen damit umzugehen.

Würden wir einen Rothirsch fragen, wo er am liebsten lebt, bekämen wir sicherlich unterschiedliche Antworten. Immerhin ist er ein sehr anpassungsfähiges Tier und kommt mit vielen Gegebenheiten zurecht. Jedoch mag er einen abwechslungsreichen Lebensraum am liebsten. Eine Mischung aus Wald, halb offenen und offenen Plätzen bietet ihm alles, was er zum Leben benötigt: Nahrung, schützende Rückzugsorte und ausreichend Platz, zum Beispiel für die Brunft.
Doch er kommt auch mit einseitig gestalteten Habitaten zurecht. So finden wir ihn in reinen Waldgebieten genauso wie in baumfreien Regionen. Ein eindrucksvoller Beleg für seine herausragende Anpassungsfähigkeit ist, dass er sich auch an Orten in der Welt durchgesetzt hat, wo er natürlicherweise nicht vorkommt. So wurde der Rothirsch beispielsweise in Argentinien und Neuseeland angesiedelt. Ein Misserfolg dieser Ansiedlungsversuche wäre für die Natur und schlussendlich auch für den Rothirsch besser gewesen. Allerdings hat er sich in diesen Ländern mittlerweile etabliert.

In Deutschland darf sich der Rothirsch nur in ausgewählten Bezirken aufhalten. Verlässt er sie, wird er erschossen. Diese naturverachtende Regelung sorgt dafür, dass der Rothirsch sein natürliches Leben nicht mehr führen kann: Wanderungen können nicht stattfinden. Somit findet zwischen den isolierten Populationen in Deutschland fast kein Austausch statt. Inzucht, mit all seinen negativen Folgen, wird zu einem immer größeren Problem. Durch die genetische Einfalt sind die Bestände deutlich anfälliger für Krankheiten. Viele Wissenschaftler sehen den dauerhaften Erhalt der Rothirschpopulationen in Gefahr, wenn daran nichts geändert wird und wir Voraussetzungen für einen genetischen Austausch schaffen.

Brunft

Wann die Paarungszeit der Rothirsche beginnt, ist auch abhängig vom Wetter. Milde Temperaturen sorgen in der Regel dafür, dass der Start nach hinten verlegt wird. Etwa ab Anfang September kann für bis zu sechs Wochen die Brunft beobachtet werden. Doch nicht nur der Beginn, auch die Dauer kann variieren. Ist es kälter, sind zumeist vermehrt Aktivitäten wahrnehmbar. Wird es milder, nehmen die Aktivitäten der Rothirsche ab.

Die Brunft ist weitaus mehr als Röhren und Kämpfen. Etwa ab seinem 6. Lebensjahr ist ein Rothirsch in der Lage, ein Rudel zu verteidigen und für sich zu beanspruchen - er wird damit zum Platzhirsch. Mithilfe seiner Voraugendrüse produziert der Hirsch ein Sekret, mit dem er seinen Brunftplatz markiert. Der dadurch verströmte Geruch ist auch für uns Menschen wahrnehmbar. Für Konkurrenten ist das Sekret die erste, gewaltfreie Botschaft mit klarem Inhalt: Hier ist mein Revier, geh lieber nicht weiter. Hilft diese Warnung nicht, unterstreicht der Platzhirsch seinen Gebietsanspruch, indem er mithilfe seines Geweihs den Boden aufwühlt. Vor allem junge, noch unerfahrene Männchen lassen sich hiervon leicht beeindrucken und räumen das Feld. Ganz nebenbei erfüllt der Rothirsch hiermit noch eine wichtige Aufgabe innerhalb des Ökosystems. Denn auf dem von ihm aufgebrochenen Boden haben es Samen von Bäumen und anderen Pflanzen einfacher zu keimen.

Als zusätzliches Mittel, um seinen Gebietsanspruch geltend zu machen, greift der Rothirsch selbstverständlich auch auf das weithin hörbare Röhren zurück. Und klar, auch der Urin darf nicht fehlen. Während der Brunft ist der Hirschurin mit einem Pheromon angereichert, welches sich ebenfalls durch einen sehr intensiven Geruch auszeichnet. All dies hilft in der Regel, Konkurrenten zu vertreiben, ohne kämpfen zu müssen. Allerdings nur solange der Eindringling unterlegen ist. Treffen zwei gleichstarke Tiere aufeinander, geht die Auseinandersetzung in die nächste Runde.

Doch auch dann wird nicht unmittelbar mit dem Kampf begonnen. Die Kontrahenten zeigen einander, was sie zu bieten haben. Mitunter lässt sich dabei beobachten, wie sie im Imponierschritt parallel zueinander gehen und sich gegenseitig ihre Breitseite präsentieren. In dieser Phase bleibt noch immer die Gelegenheit, den Platz zu räumen und friedlich aus der Situation herauszukommen. Denken beide weiterhin, sie wären der Größte, beginnt der Kampf. Frontal krachen die Rothirsche mit ihren Geweihen aufeinander. Jeder versucht, den anderen vom Platz zu schieben. Der Kampf ist dann zu Ende, wenn der Unterlegene flieht. In seltenen Fällen geht der Kampf bis ans Äußerste und endet mit dem Tod eines Kontrahenten. Wie kräftezehrend diese Zeit für die Platzhirsche ist, verdeutlicht eine Zahl besonders: Die imposanten Tiere verlieren während der Brunft bis zu 20 Prozent ihres Körpergewichts.

Interessant zu wissen: In natürlichen, unzerschnittenen Lebensräumen legen Hirsche oft weite Strecken zurück, um an ihren Brunftplatz zu gelangen. Nachgewiesen ist eine Strecke von 120 Kilometern. Da die Tiere in Deutschland nur inselartig verbreitet sind, sind ihre Wege hier zumeist weitaus kürzer.

Nachwuchs bei den Rothirschen

Rothirschmütter bringen ihren Nachwuchs etwa 230 Tage nach der Befruchtung zur Welt. Die Geburt findet bei uns in der Regel zwischen Mai und Juni statt. Steht der Moment bevor, vertreibt die Mutter ihren Vorjahresnachwuchs und sondert sich von ihrer Gruppe ab. Zumeist sucht sie sich ein Versteck im Unterholz und entzieht sich so dem Blick möglicher Fressfeinde.

Für das Geburtsgewicht gibt es eine Faustregel, die aber durchaus durch Ausnahmen gebrochen werden kann. Je älter und schwerer die Mutter ist, desto schwerer kann auch ihr Nachwuchs sein. Die Unterschiede zwischen deren Körpergewichten sind mitunter enorm und bewegen sich in einem Bereich von etwa sechs bis vierzehn Kilogramm.
Die Bande zwischen Mutter und Kind sind eng. Bereits kurz nach der Geburt kann das Neugeborene seiner Mutter folgen. Die Schritte sind aber noch wackelig und die Leistungsfähigkeit der Kleinen befindet sich noch in der Entwicklung.

Da der Nachwuchs noch nicht die nötige Vitalität besitzt, um selbstständig im harten Kampf zwischen Leben und Tod zu bestehen, hat die Natur für eine besondere Lösung gesorgt. So hat der Rothirschnachwuchs, wie alle Kinder, stets das Bedürfnis, mit ausreichend Nahrung versorgt zu werden. Die Mutter muss das gleiche Bedürfnis für sich selbst aber ebenfalls befriedigen. Eine miteinander nicht vereinbare Situation. Eigentlich - denn an dieser Stelle kommt die Natur mit ihrer Lösung daher. Hat das Kleine fertig getrunken und ist satt, verliert es seinen Bewegungsdrang und das Bedürfnis, der Mutter zu folgen. Stattdessen rollt es sich zusammen und ruht sich regungslos auf dem Boden liegend aus. Dort wartet es auf die Rückkehr der Mutter, die nun ausreichend Zeit hat, sich ihrerseits den Magen vollschlagen zu gehen.

Einsamkeit im Alter

In der Berichterstattung über sozialpolitische Themen wird oft über die Vereinsamung von Menschen im Alter berichtet. Aktuelle Umfragen legen offen, dass diese Problematik an Gewicht gewinnt. Da stellt sich doch die Frage: Sind wir Menschen mit dieser Problematik alleine?

Um die Antwort vorwegzunehmen: Nein - offenbar gibt es auch andere Spezies, denen es im Alter ähnlich ergeht wie uns Menschen. Forschende der Universitäten von Edinburgh und Oxford haben zu diesem Thema nun eine Studie veröffentlicht. Dafür wurden die sozialen Kontakte von Rothirschen im Verlauf ihres Lebens ausgewertet. Und der Datensatz, der dieser Studie zur Verfügung stand, ist kein kleiner. Die Daten wurden über einen Zeitraum von 46 Jahren gesammelt. Insgesamt kamen dabei über 200.000 Zählbeobachtungen von mehr als 3.500 Individuen zusammen. Ort der Beobachtungen war die schottische Isle of Rum.

Die Studie zeigt, dass mit den Jahren die Rolle einer Hirschkuh im sozialen Gefüge immer weiter abnimmt. Das geht so weit, dass die Tiere im hohen Alter sogar ihre altbekannten Aufenthaltsorte änderten. Sie verließen ihr gewohntes Terrain und wechselten in Gebiete, in denen weniger Artgenossen lebten. Neben der Isolation von ihren Artgenossen standen ihnen hier auch ein schlechteres Nahrungsangebot und ein kleineres Revier zur Verfügung. Der Studie zur Folge ist dieser Rückzug selbst gewählt und wird nicht zum Beispiel durch Vertreibung von anderen Herdenmitgliedern erzwungen.

Warum die Rothirsche ihr Sozialverhalten im Alter ändern, blieb bislang ihr Rätsel. Um das Geheimnis zu lüften, sind weitere Forschungsarbeiten von großer Bedeutung. Interessant wären sicherlich auch Arbeiten über ähnlich lange Zeiträume zu anderen Arten. Dieses Beispiel zeigt eindrücklich, wie uns selbst „bekannte“ Arten immer wieder mit neuen Erkenntnissen und daraus resultierenden neuen Rätseln überraschen. Die Natur bleibt spannend!

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