Die Graugans

Zahlreiche Verhaltensforscher haben mit Graugänsen gearbeitet und ihnen auf diese Weise zu großer Berühmtheit verholfen. Warum aber entschieden sich die Forscher ausgerechnet für die Graugans als Mittelpunkt ihrer Forschung? Der Grund dürfte darin liegen, dass neugeborene Graugänse nicht über die Fähigkeit verfügen, ihre Eltern als solche zu erkennen. Auch die Fähigkeit, den Lockruf der Eltern zu erkennen, ist bei ihnen nicht angeboren. Die kleinen Gänse müssen das erst lernen. Aus diesem Grund ist es Verhaltensforschern möglich, an die Stelle der Eltern zu treten und den Gänsenachwuchs auf sich zu prägen.

Graugänse sind sehr sozial lebende Tiere. Sie leben das ganze Leben mit dem gleichen Partner zusammen. Dabei finden die Partner meist schon im zweiten Lebensjahr zusammen. Erstaunlich daran ist, dass sie erst im dritten Lebensjahr die Geschlechtsreife erlangen und meist erst im vierten Jahr zum ersten Mal brüten.

Die vier bis neun Eier werden vom Weibchen 27 bis 29 Tage bebrütet und dann von beiden Elternteilen versorgt. Mit etwa 50 bis 60 Tagen unternehmen die kleinen Gänse die ersten Flugversuche. Mit dem Erlangen der Flugfähigkeit und der Möglichkeit, sich selbst mit Nahrung zu versorgen, endet die Eltern-Kind-Beziehung aber nicht. So reisen die Jungtiere meist mit den Eltern gemeinsam in die Überwinterungsgebiete und trennen sich erst zur nächsten Brutsaison von ihnen. Allerdings bleiben sie oft weiterhin in Kontakt. Auch interessant: Graugänse gehören zu den Tieren, bei denen homosexuelle Beziehungen nachgewiesen sind.

Die Graugans erkennen

Die 75 bis 90 Zentimeter lang werdende Graugans trägt ihren Namen zu Recht. Ihr Körper ist grau gefärbt, auf dem Bauch befinden sich schwarze Flecken, die unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Der Kopf ist ebenfalls grau, genau wie Unter- und Oberflügel. Die Flügel werden zu den Spitzen hin dunkler, eher ins Bräunliche gehend. Der orange gefärbte Schnabel ist relativ groß und wirkt etwas klobig. Die Beine sind eher rosa, selten auch orange. Mit einem Gewicht von bis zu 4 Kilogramm und einer Flügelspannweite von bis zu 170 Zentimetern ist die Graugans eine stattliche Erscheinung. Vielleicht ein Grund dafür, dass sie meist langsamer fliegt als andere Gänse.

Für uns ist dieser langsame Flug auf jeden Fall vorteilhaft, denn er gibt uns ausreichend Gelegenheit, die Graugänse auch im Flug zu beobachten und zu belauschen. Gerade im Flug haben sie sich scheinbar eine Menge zu sagen. So habe ich bislang selten erlebt, dass sie schweigend an mir vorbeigeflogen sind.

Vom Zugvogel zum Standvogel

In der Vogelwelt sind aktuell eine ganze Reihe von Veränderungen festzustellen. So auch bei der Graugans. Während sie bei uns ursprünglich ein Zugvogel war, entwickelt sie sich immer mehr zu einem Standvogel. Hierfür werden unterschiedliche Gründe herangezogen. Wissenschaftlich bewiesen ist bisher allerdings keine davon.
Als einer der Gründe wird der Klimawandel genannt. Es wird merklich wärmer und so ändert sich auch das Zugverhalten diverser Vogelarten. Sie ziehen zum Teil gar nicht oder legen deutlich kürzere Strecken zurück. Dieser Punkt könnte auch bei der Graugans eine Rolle spielen. Hinzu kommt, dass die Graugans wohl eine der wenigen Nutznießer der Intensivierung der Landwirtschaft ist. So findet sie auch im Winter noch ausreichend Nahrung auf abgeernteten und bereits neu eingesäten Feldern.
Außerdem ist der Jagddruck auf Graugänse in Südeuropa deutlich höher als hier bei uns. Welcher Grund ausschlaggebend ist oder ob eine Kombination der genannten Gründe den Ausschlag gibt, wird die Forschung mit der Zeit sicherlich zeigen.

Ziehen die Graugänse wie gewohnt in wärmere Gebiete, kann man sie hierbei in der charakteristischen V-Formation beobachten. Dabei ist die gestreckte Haltung des Halses typisch, um möglichst ergonomisch und damit energiesparend zu fliegen. Zudem wechseln die Graugänse bei dieser Flugformation ständig ihre Position. So muss jeder Vogel mal vorne, direkt im Wind fliegen, um sich dann später im Windschatten der anderen Vögel „ausruhen“ zu können.

Die Domestizierung

Im Vergleich zu anderen sogenannten Nutztieren begann die Domestizierung von der Graugans zur Hausgans sehr spät. Erst im zweiten vorchristlichen Jahrtausend wurde sie in Europa domestiziert. Zu diesem Zeitpunkt war das bei anderen Arten, wie zum Beispiel dem Hund oder Rind, längst geschehen.
Seither wird die Hausgans auf vielerlei Weise benutzt. Ihr Fleisch wird gegessen, ihre Federn in Decken, Jacken und andere Gegenstände gestopft. Einst war sie vielerorts auch als „Wachhund“ im Einsatz. Berühmtheit erlangte sie zum Beispiel im Jahr 390 v. Chr., als der Angriff der Gallier auf Rom scheiterte, weil die wachsamen Gänse rechtzeitig Alarm schlugen.

Die Jagd

Schaut man auf die heutige positive Bestandsentwicklung der Graugans, kann man kaum glauben, dass sie einst fast ausgerottet war. Sie wurde gejagt und ihre Eier wurden gesammelt. Durch die Mauser flugunfähige Tiere wurden einfach eingesammelt und getötet. Nicht zuletzt stellte auch die großflächige Zerstörung ihrer Brutgebiete, vor allem durch Entwässerung, eine Bedrohung für die Gänse da. All diese Faktoren zusammen führten dazu, dass die Art im 18. und 19. Jahrhundert in Westeuropa fast ausgestorben war.
Zum Glück konnten sich an der Elbe und in Skandinavien Bestände halten.

Die Rückkehr

Die Rückkehr der Graugans startete in Deutschland zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Der damals abnehmende Jagddruck war ein Vorteil bei der Neubesiedlung früherer Verbreitungsgebiete. Außerdem gab es nach dem Krieg erfolgreiche Auswilderungsprojekte.

Positiv hat sich auch die Wiedervernässung einst trockengelegter Moorflächen ausgewirkt. Hier kann beispielsweise die Region um den Dümmer See genannt werden. Dort konnte ich bereits eine Vielzahl dieser tollen Vögel beobachten.

Die Graugans zählt zu den wenigen Profiteuren der intensiven Landwirtschaft. Ihr Tisch ist durch sie oft reich gedeckt und das nimmt sie selbstverständlich dankend entgegen. Dadurch bahnen sich neue Konflikte an. Wie so oft soll die Bestandsregulierung, was weniger schön ausgedrückt das Töten der Gänse bedeutet, als Mittel der Wahl dienen.
Bleibt zu hoffen, dass die Stimmen lauter werden, die gewaltfreie Lösungen in den Fokus rücken. Den Gänsen, aber auch uns Menschen wäre das zu wünschen.

Anders als die Graugans ist die Blässgans (die sich übrigens auch ins Bild gemogelt hat) nur zum Überwintern bei uns zu Gast.

Der Gänsemarsch

„Der Gänsemarsch“ begegnet uns im Alltag immer wieder. Für viele Dinge muss er, mal mehr und mal weniger gelungen, als Metapher herhalten. Doch für seine Namensgeber, die Gänse, ist der Gänsemarsch ein fester Bestandteil ihrer Überlebensstrategie:
Wenn möglich, halten sich die Elterntiere mit ihrem Nachwuchs im hohen Gras auf. Hier ist vor allem der Nachwuchs gut geschützt und für Feinde nicht ohne weiteres zu finden. Kommt die Familie nun an ein Hindernis, zum Beispiel in Form einer Straße, muss die tarnende Umgebung verlassen werden. Gerade für die Eltern sind solche Momente stressig und anstrengend. Ein Elterntier wagt sich aus der Deckung und prüft, ob die Lage sicher ist. Erst wenn Entwarnung gegeben wird, verlässt auch der Nachwuchs sein Versteck. Dicht an dicht folgen sie hintereinanderlaufend dem Elterntier. Mit dieser einfachen, aber dennoch genialen, Methode wird der Nachwuchs bestmöglich geschützt, da das unsichere Gebiet schnellstmöglich, geordnet und auf dem kürzesten Weg durchquert wird.

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